Nur vier Matches standen am Schlusstag des LIEBHERR Men’s World Cup 2014 auf dem Programm, mancher der 4.400 Besucher im Düsseldorfer ISS-Dome mag anfänglich gedacht haben, dass dies etwas wenig Tischtennis bei nicht ganz geringen Ticketpreisen sei. Doch es wurde nochmals richtig prickelnd – es war alles andere als ein stinknormaler letzter Turniertag. Und es kam zu einem im „braven“ Tischtennissport eher seltenen Eklat nach dem letzten Ball des aufregenden Wettbewerbs. Triumphator Zhang Jike explodierte förmlich und „verewigte“ sich an zwei Werbe-Banden.
Sportlich wurde „großes Kino“ geboten, abgesehen vielleicht vom einseitigen ersten Halbfinale zwischen Ma Long und Jun Mizutani, das der Chinese nach Belieben beherrschte. Großartig das andere Semifinal-Match zwischen Weltmeister Zhang Jike und Timo Boll, das letzterer eine Stunde lang völlig offen gestalten konnte, um schließlich im siebten Satz den Kürzeren zu ziehen (7:11, 11:5, 8:11, 14:16, 11:6, 11:6, 6:11). Boll zeigte auch bei seinem anschließenden 4:2-Sieg im „kleinen Finale“ gegen Jun Mizutani, dass man ihn längst noch nicht abschreiben sollte, und sicherte sich Bronze und 15.000 US-Dollar Preisgeld.
Und dann das Highlight mit einem Vulkanausbruch am Ende: Zhang Jike und Ma Long lieferten sich ein mitreißendes Finalduell, spielerisch und kämpferisch auf absolutem Top-Level. Phasenweise sah es so aus, als könnte der Sieger nur Ma heißen – spätestens als er nach einem 11:2 im fünften Satz mit 3:2 in Führung gegangen war.
Doch sein Kontrahent, der sich schon oft als der Stabilere der beiden erwiesen hatte, wenn es um große Titel ging, biss sich wieder ins Match hinein und triumphierte schließlich in der Verlängerung des Entscheidungssatzes (8:11, 11:4, 13:11, 7:11, 2:11, 11:5, 12:10). Zhang entthronte damit seinen Landsmann Xu Xin, der das Turnier 2013 im ostbelgischen Verviers gewonnen hatte.
Seine Emotionen hatte der Liebling der gut 100-köpfigen chinesischen Fan-Delegation im ISS-Dome („Zhang Jike, marry me!“) anschließend nicht im Griff. Die ganze Spannung entlud sich im Zertreten zweier Banden und wilden Veitstänzen, was von der ITTF kurz darauf mit der Aberkennung des Preisgelds von 45.000 Dollar wegen unsportlichen Verhaltens geahndet wurde.
Wer das verschwitzte Trikot des Tischtennis-Enfant-Terribles auffing, das dieses zwischen seinen Banden-Eskapaden in die Menge warf, hat ein kaum bezahlbares, historisches Textil erwischt – ein Prunkstück jeder Sammlung. Mancher Hardcore-Fan wartet schon sehnsüchtig darauf, dass es bei Ebay angeboten wird.
Emotions-Vulkan Zhang Jike
Der surreal wirkende Schluss-Auftritt des neuen Welt-Cup-Siegers, der bereits 2011 in Paris ganz oben auf dem Treppchen gestanden hatte, war irgendwie die – natürlich übersteigerte – „Krönung“ eines ereignisreichen Events. Der 26-jährige Weltranglistenvierte hatte sich während des hochklassigen Sieben-Satz-Finales gegen seinen einen Tick stärker eingeschätzten, gleichaltrigen Landsmann Ma Long, bis dahin im Turnier äußerst souverän, stets gut kontrolliert und immer zurückgenommen, wenn es in ihm brodelte. Wahrscheinlich war dies auch nötig, um trotz zweier vergebener Matchbälle am Ende des nicht weniger als eine Stunde und 25 Minuten dauernden Finales doch zu triumphieren.
Allerdings musste sich eine Menge in ihm aufgestaut haben, womöglich auch gegenüber dem chinesischen Verband und dessen Cheftrainer Liu Guoliang, denen er es offenbar um jeden Preis beweisen wollte. Dem ersten Urschrei-Jubel folgte der beherzte Sprint zur einen Tribünenseite, garniert mit krachenden Kung-Fu-Tritten gegen die Bande, die der kräftigen Beinmuskulatur des Modellathleten aus dem Reich der Mitte nichts entgegenzusetzen hatte. Danach eine Art Siegestanz, der an Indianer-Rituale erinnerte, bevor es zur anderen Seite der Court-Begrenzung ging, die ebenfalls dran glauben musste. Das waren eigentlich gleich mehrere Rote Karten zusammen und die erschrockenen Referees schauten sich fragend an. Nichts haben konnte man dagegen gegen Zhangs durchaus zivilisiertes, zärtliches Küsschen für den Siegesball.
Zwei Minuten war Zhang völlig außer Rand und Band, dann dämmerte ihm allmählich, was er angerichtet hatte, ermahnt von Liu Guoliang und vom chinesischen TV vor die Kameras gebeten, wo er sich dann auch prompt entschuldigte. Rückgängig zu machen war es indes nicht mehr. Kaum einer achtete in diesem Moment mehr auf Ma Long – der World Cup-Sieger von Liverpool 2012 war völlig aufgelöst und kämpfte mit den Tränen.
In der Sieger-Pressekonferenz bat Zhang um Verständnis und eine milde Beurteilung: „Ich habe sehr stark unter Druck gestanden. Ich bin in den letzten zwölf Monaten oft kritisiert worden und habe seit längerer Zeit kein größeres Einzel-Turnier mehr gespielt. Ich bin sehr erleichtert, dass ich hier gewinnen konnte.“
Der topgesetzte Ma Long kommentierte seine Final-Niederlage wie folgt: „Es war ein fantastisches Match, in dem wir beide sehr gut gespielt haben. Leider habe ich einige Schlüsselpunkte und Chancen liegen lassen.“
Prickelndes China-Duell mit krassem Ende
Früher gab es zwischen Chinas Assen nicht selten langweilige, emotionslose Endspiele – bisweilen stand der Sieger aufgrund von „Stallregie“ schon vorher fest. Das Finale 2014 war das krasse Gegenteil – emotional bis zur Ekstase, auch wenn beide Kontrahenten das während des Marathon-Matchs immer wieder unterdrücken konnten. Doch danach brachen alle Dämme, nicht gerade vornehm gemessen an den im Tischtennissport geltenden Benimm-Regeln – aber irgendwo sogar zu verstehen und ungemein menschlich.
Wer sich in den tieferen Spielklassen umschaut und registriert, wie viel überschäumende Emotionalität bisweilen von Hobbyspielern an den Tag gelegt wird, kann es auch Profis, die sich pausenlos zügeln und zurücknehmen müssen, nicht so sehr übelnehmen, wenn ein Vulkan tatsächlich einmal zur Eruption kommt wie gestern im ISS-Dome.
Und für das Nicht-Fachpublikum, das den schnellsten Rückschlagsport der Welt bisher vielleicht eher für langweilig gehalten hat, da zu brav und zahm, war es sogar ein Wachrüttler, sofern es bewegte oder unbewegte Bilder davon zu Gesicht bekam. Für die Medien war es ohnehin ein echtes Highlight, von den zahlreichen Pressekollegen aus dem Nicht-Tischtennisbereich war in Düsseldorf immer wieder zu hören: „Wow, endlich war da mal richtig was los beim Ping-Pong!“
Chinas Funktionäre „not amused“
Dennoch war die Maßnahme des ITTF-Preisgerichts korrekt, Zhang die Siegprämie abzuerkennen, zumal die besten Spieler der Welt natürlich auch eine Vorbildfunktion für den gesamten Sport besitzen. Umso mehr, als nicht lange herum debattiert, getrickst und glattgebügelt wurde – wie in der Politik leider üblich -, sondern es unverzüglich zu einer eindeutigen Entscheidung kam, die keine Fragen offen ließ.
Zhang Jike wird dadurch kein armer Mann, das kann einer der bestbezahlten Tischtennis-Profis der Welt verkraften. Die Fans werden es ihm verzeihen und die chinesischen Tischtennis-Enthusiasten, wie gestern auch in der Halle zu beobachten war, werden ihn vielleicht sogar noch mehr ins Herz schließen, doch sein Standing beim chinesischen Verband dürfte schwer beschädigt sein.
Dort sieht man es nämlich gar nicht gerne, wenn ein Spitzensportler das Ansehen des Landes in der Welt schmälert – und genau so wird man Zhangs „Auftritt nach dem Auftritt“ bewerten und ihn womöglich intern für eine ganze Weile sperren. Seine ohnehin schon zuvor in Frage stehende Nominierung für Olympia 2016 in Rio könnte damit „gestorben“ sein.
Die ITTF titelte später: „Zhang Jike Pays Price of Success“. Er wird daraus lernen – und damit sollte man das Kapitel eigentlich auch abschließen.
Sonderlob für Timo Boll
Und bei all dem sollte man nicht aus dem Fokus verlieren, dass mit Timo Boll ein stets ruhiger, besonnener und beherrschter Sportsmann bewiesen hat, dass er längst noch nicht zum alten Eisen gehört. Herausragend waren seine Auftritte bei seinem Heimspiel in Düsseldorf.
Der 33-jährige Weltranglistenneunte war von manchen schon abgeschrieben worden – man hörte vor Beginn der Halbfinals von nicht wenigen Zuschauern die Einschätzung: „Das gestern gegen Ovtcharov war Glück, der war zu platt, aber die Top-Chinesen machen kurzen Prozess mit ihm, das schafft er nicht mehr.“
Keineswegs – der prominenteste aller Odenwälder war gegen den stark spielenden späteren Turniersieger Zhang Jike – amtierender Weltmeister und Olympiasieger – absolut auf Augenhöhe und scheiterte nur hauchdünn am Einzug ins Finale, in dem er in dieser Verfassung auch gegen Ma Long nicht ohne Chance gewesen wäre.
„Ich habe gut gespielt und hätte natürlich das Spiel gerne gewonnen, aber Zhang Jike ist nicht umsonst Weltmeister und Olympiasieger. Gegen ihn ist es sehr komplex zu spielen, da er auf fast alles eine Antwort hat und man daher sehr variabel spielen und viele Schläge weiterdenken muss. Das macht einen müde und man macht Fehler. Ich war schon an meinem Limit und er kann immer noch eine Schippe drauf legen. Das macht dann den Unterschied“, so Boll nach seiner knappen Niederlage. Sich selbst sieht der einstige Weltranglistenerste im Aufwind: „Ich war spielerisch gut und bin froh, dass ich so nah an den Chinesen dran bin. Es fehlen nur noch Kleinigkeiten.“
Im Match um Bronze gegen Jun Mizutani (4:2), immerhin die Nummer sieben der Welt, bestätigte Boll dann ein weiteres Mal, dass er immer noch zur Crème de la Crème des internationalen Tischtennis zählt. Schon am Vortag hatte er mit seinen sehenswerten Erfolgen über Adrien Mattenet und Dimitrij Ovtcharov, der ihn national von der Spitzenposition verdrängt hat, Ansprüche angemeldet, oben nochmals anzuklopfen. Zum dritten World Cup-Sieg seiner Karriere nach 2002 in Jinan und 2005 in Lüttich fehlte gar nicht so viel. Seine 15.000 Dollar Preisgeld waren mehr als verdient.
Dass mit Boll und Ovtcharov weiter zu rechnen ist, bestätigte nach dem Turnier auch Zhang Jike: „Beide sind unsere Top-Rivalen und sie werden auch in Zukunft unsere schwersten Rivalen bleiben.“
Insgesamt kamen 10.050 Besucher an den drei Turniertagen, das entspricht einem Schnitt von 3.350 pro Tag. Mehr kann man mit Tischtennis – und sei es noch so erlesen – kaum in die Halle bringen, es sei denn, es handelt sich um Weltmeisterschaften oder Olympia.
LIEBHERR Men’s World Cup 2014
Finale
Ma Long – Zhang Jike 3:4 (8,-4,-11,7,2,-5,-10)
Spiel um Platz drei:
Boll – Mizutani 4:2 (-2,7,8,-6,2,9)
Halbfinale
Timo Boll – Zhang Jike CHN 3:4 (-7,5,-8,-14,6,6,-6)
Ma Long CHN – Jun Mizutani JPN 4:0 (9,4,6,7)
Viertelfinale
Ma Long CHN – Tiago Apolonia POR 4:0 (10,8,6,1)
Jun Mizutani JPN – Chuang Chih-Yuan TPE 4:1 (-5,11,6,6,13)
Timo Boll GER – Dimitrij Ovtcharov GER 4:0 (8,8,5,1)
Zhang Jike CHN – Quadri Aruna NIG 4:2 (-6,7,4,7,-8,8)
Achtelfinale
Ma Long CHN – Kenta Matsudaira JPN 4:0 (6,4,4,2)
Marcos Freitas POR – Tiago Apolonia POR 0:4 (-6,-9,-2,-5)
Chuang Chih-Yuan TPE – Chen Chien-An TPE 4:2 (8,3,-3,-9,8,10)
Jun Mizutani JPN – Panagiotis Gionis GRE 4:0 (2,10,11,3)
Dimitrij Ovtcharov GER – Kamal Achanta IND 4:3 (-9,7,6,-8,5,-11,10)
Timo Boll GER – Adrien Mattenet FRA 4:1 (-9,13,7,9,9)
Tang Peng HKG – Quadri Aruna NGR 2:4 (7,-9,-10,-8,9,-3)
Zhang Jike CHN – Adrian Crisan ROU 4:0 (8,9,11,8)
Vorrunde
Gruppe 1
1. Tiago Apolonia POR 2:0 Spiele
2. Sharath Kamal Achanta IND 1:1
3. Cazuo Matsumoto BRA 0:2
Apolonia – Matsumoto 4:1 (7,-14,9,9,8)
Apolonia – Achanta 4:0 (5,7,10,10)
Achanta – Matsumoto 4:1 (8,-5,9,10,10)
Gruppe 2
1. Adrien Mattenet FRA 2:0
2. Panagiotis Gionis GRE 1:1
3. William Henzell AUS 0:2
Gionis – Henzell 4:0 (9,8,8,8)
Gionis – Mattenet 0:4 (-5,-5,-8,-7)
Mattenet – Henzell 4:3 (7,-12,10,-8,10,-4,6)
Gruppe 3
1. Chen Chien-An TPE 2:0
2. Adrian Crisan ROU 1:1
3. Kanak Jha USA 0:2
Chen – Jha 4:1 (-13,6,5,2,6)
Chen – Crisan 4:3 (-7,-8,-9,6,11,11,8)
Crisan – Jha 4:0 (8,8,4,9)
Gruppe 4
1. Quadri Aruna NIG 2:0
2. Kenta Matsudaira JPN 1:1
3. Alexander Shibaev RUS 0:2
Matsudaira – Aruna 2:4 (-3,7,-6,5,-2,-11)
Matsudaira – Shibaev 4:1 (-5,12,8,11,8)
Shibaev – Aruna 0:4 (-6,-7,-4,-8)
LIEBHERR 2014 Men’s World Cup auf der Webseite der ITTF