Am Tag vor dem Final-Rückspiel im ETTU-Cup hat Tischtennis-Bundesligist TTF Liebherr Ochsenhausen den Kader für die Saison 2014/15 präsentiert. Es gibt nur eine Änderung: für Ex-Olympiasieger Ryu Seung Min, der in seine Heimat zurückgeht, um dort die Trainer-Laufbahn einzuschlagen, wurde eines der größten internationalen Talente zunächst für ein Jahr unter Vertrag genommen.
Der erst 17-Jährige Hugo Calderano, amtierender brasilianischer Meister und Sieger der Brazil Open 2013, schließt sich den Oberschwaben an. Man hat sich nicht etwa aus finanziellen Zwängen, sondern ganz bewusst nicht für einen renommierten, „fertigen“ Spieler entschieden, sondern für ein Nachwuchs-Ass, das bei optimaler Förderung beste Chancen besitzt, ganz weit nach oben vorzustoßen.
Die Verpflichtung der 1,81 Meter großen Nummer eins Brasiliens passt vorzüglich ins Ochsenhausener Konzept, mit jungen, steigerungsfähigen Spielern zu arbeiten, die von renommierten Trainern wie Dubravko Skoric, Michel Blondel oder Dmitrij Mazunov gefördert werden. Das Liebherr Masters College als ambitioniertes Projekt der Talentförderung und die TTF verschmelzen dadurch immer stärker zu einer Einheit. Man formt die Spieler selbst, auf die man baut und denen man alle Chancen bietet, groß herauszukommen.
Der junge Südamerikaner, der bereits mit 16 als jüngster Spieler der Tischtennis-Historie seinen ersten World-Tour-Titel bei den Senioren erringen konnte und der – obwohl er das „Nesthäkchen“ der TTBL-Truppe sein wird – schon drei „große“ Weltmeisterschaften für sein Land gespielt hat, passt zur Philosophie des Vereins und des College.
Aktuell ist Ochsenhausens Neuzugang die Nummer 78 der Welt. Doch die Dimension seiner Verpflichtung wird noch klarer, wenn man weitere Rankings des Weltverbandes ITTF betrachtet. TTF-Präsident Kristijan Pejinovic verdeutlicht dies: „Schaut man sich die aktuelle U21-Weltrangliste an, findet man drei Nicht-Asiaten unter den TOP 10, und das sind Liam Pitchford als Nummer vier, Hugo Calderano als Nummer acht und Simon Gauzy als Nummer zehn – also drei TTF-Spieler. Betrachtet man die U18-Weltrangliste, sind neun der zehn besten Spieler Asiaten. Doch Hugo ist die Nummer drei. Der beste Europäer steht übrigens auf Platz 14.“
Man konnte sich von Calderanos Fähigkeiten und seiner charakterlichen Eignung nicht nur auf internationalen Turnieren überzeugen, sondern direkt vor Ort und dies über einen längeren Zeitraum. Seit einem Jahr zählt die Neuverpflichtung zur Besetzung des Liebherr Masters College. Seitdem lebt und trainiert er – mit Unterbrechungen, bedingt durch die WM in Tokio und internationale Turniere – in Ochsenhausen.
Die komplette Nationalmannschaft Brasiliens bereitet sich im Übrigen dort gezielt auf Rio 2016 vor und wird ab dem Sommer dieses Jahres fast permanent in Ochsenhausen sein. Brasiliens Team gehört übrigens auch der 29-jährige Gustavo Tsuboi an, Neuzugang des Bundesliga-Aufsteigers und TTF-Kooperationspartners TTC Schwalbe Bergneustadt.
Kristijan Pejinovic ist überzeugt, dass die Verpflichtung Calderanos optimal zur TTF-Philosophie passt: „Viele haben historisch bedingt nun einen „Hochkaräter“ für Ryu erwartet, doch das wäre keine authentische Lösung gewesen. Zum Konzept der TTF und des Liebherr Masters College hätte einfach keine Verpflichtung eines Tischtennis-Legionärs gepasst. Hätten wir einen „großen Namen“ geholt, wären wir nächste Saison vielleicht Zweiter oder Dritter geworden – aber das ist es nicht, was wir anstreben. Damit hätten wir letztlich wieder nur ein Jahr verloren. Wir bevorzugen einen organischen Aufbau und wollten einen jungen Spieler mit Potenzial und Power – und das ist Hugo ohne Zweifel.“ Die Mannschaft soll sich ohne zu viel Druck entwickeln. Pejinovic präzisiert dies: „Wir werden kein Saisonziel vorgeben und uns auf Bundesliga und Pokal fokussieren. Es ist nun wichtig, dass wir uns nach einem harten, prägenden und nicht immer guten Jahr stabilisieren.“
Der TTF-Chef hält große Stücke auf den neuen Spieler: „Hugo hat in diesem Jahr noch ein straffes Programm vor sich, unter anderem mit Jugend-Olympiade und Jugend-WM. Es ist ein fremder Kontinent für den Jungen und er will sich durchbeißen, das verdient Respekt. Ich baue darauf, dass er seinen Weg hier macht, er wird von uns alle Unterstützung erhalten, die er benötigt.“ Auch charakterlich und als Typ passt er nach Ochsenhausen: „Er ist ein sehr offener junger Kerl, auch wenn er noch etwas schüchtern wirkt. Im Spiel tritt er dann aber ganz anders auf, die Zuschauer werden ihn ins Herz schließen.“
Der talentierte Südamerikaner wurde keineswegs als „Notnagel“ verpflichtet: „Natürlich wird er sich als Neuling erst einmal hinten einreihen, auch wenn er von der Weltranglistenposition her eigentlich bereits die Nummer drei wäre“, sagt Pejinovic. „Aber er wird fester Bestandteil des Teams sein, gleichberechtigt mit allen anderen, und genügend Bundesliga-Einsätze erhalten.“
Kurzzeitig hatte man sogar darüber nachgedacht, fünf Spieler unter Vertrag zu nehmen: „Das war eine Überlegung bei uns wegen des Verletzungspechs 2013/14, die wir dann aber verworfen haben, weil sonst immer zwei aus dem Kader hätten pausieren müssen, was für die Psyche junger Spieler nicht gut ist.“ Pejinovic erläuert: „Man hat das bei Liam Pitchford gesehen, der in seinem ersten Jahr fast immer auf der Bank gesessen hat. Das war letztlich verlorene Zeit. Inzwischen hat Liam gezeigt, dass er sogar schon Leader-Funktionen ausfüllen kann und hat England bei der WM zurück in die Championship Division geführt.“
Das Trainerteam wird künftig um einen Video-Analysten – im Tischtennissport bisher eher ungewöhnlich, in anderen Sportarten bereits gang und gäbe – erweitert. Die Chinesen und Japaner machen es uns vor, dass dies ein erfolgversprechender Ansatz ist. Zudem soll die medizinische Betreuung der Mannschaft optimiert werden. Der TTF-Präsident führt aus: „Diese wird künftig von einem ständig zur Verfügung stehenden Ärzteteam aus der Region vorgenommen. Das ist ein wichtiger Bereich, wir wollen hier präventiv vorgreifen. Regelmäßige Checks und Belastungs-EKGs werden dazu gehören.“
Pejinovic erinnert sich gerne zurück an seine Anfangszeit in Ochsenhausen: „Das war 2002, damals hatten wir mit Crisan (22 Jahre), Cioti (18), Chuang (19) und Daniel Zwickl (17) ein ähnlich junges Team. Smirnov war der älteste mit 25. In der Weltrangliste stand damals nur Chuang (17.) richtig gut, Smirnov war 41., Crisan 68., Cioti 158. und Zwickl 167. Wir haben den Jungs damals auch Zeit gegeben und es wurden sehr erfolgreiche Jahre für den Verein.“
Die Devise, mit verjüngter Mannschaft neue Begeisterung hervorzurufen, habe damals optimal funktioniert und das Publikum mitgerissen. Pejinovic ist überzeugt, dass Ähnliches erneut glücken kann: „Wir wollen jetzt Beständigkeit hineinbringen und das Team stabilisieren, um in zwei, drei Jahren wieder richtig mitzureden. Bis dahin sind wir mit guten Mittelfeldplätzen zufrieden. Wir werden Ruhe bewahren, wenn die junge Mannschaft mal zwei, drei Spiele hintereinander verliert. Die Spieler sollen lernen, mit Druck umzugehen. Es wäre aber fatal, zum jetzigen Zeitpunkt von Play-offs oder Ähnlichem zu sprechen. Düsseldorf hatte es ja mal mit deutschen Nationalspielern ähnlich praktiziert. Bei uns wird aber nicht solch ein Erfolgsdruck herrschen wie dort.“
Kristijan Pejinovic, der sich darüber freut, dass die Partner und Sponsoren voll hinter diesem Kurs stehen, formuliert das Motto: „Mit junger Mannschaft zu neuer Begeisterung!“