So, 22. Dezember 2024
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„Es geht immer mehr als man denkt“ – Interview mit Vivien Scholz

Die 23-jährige Brandenburgerin Vivien Scholz spielt bei Bundesligaaufsteiger ESV Weil. Zwar kam sie bisher erst in zwei Punktspielen zum Einsatz, jedoch mit großem Erfolg. Sie verließ nach allen drei Matches den Tisch als Siegerin, so etwa beim Sensationssieg ihres Teams in Kolbermoor. Zudem hatte sie durch einen Erfolg im Schlussdoppel gegen Bingen erheblichen Anteil am Einzug des ESV in das Pokal Final Four. Im Gespräch erweist sich Vivien Scholz als intelligente junge Frau, die etwas mitzuteilen hat. Nachfolgend das Interview mit ihr in voller Länge.

Wie sind Sie zum Tischtennis gekommen und in welchem Alter haben Sie damit begonnen?

„Nachdem ich jede Menge verschiedene Sportarten von Fußball über Badminton bis hin zu Ballett ausprobiert und mir keine so wirklich zugesagt hatte, bin ich mit meinem Vater und seinen Tischtennisfreunden in ein kleines Tischtennistrainingslager nach Sachsen/Erdmannsdorf gefahren. Damals war ich sieben Jahre alt und ich war vom ersten Ball an Feuer und Flamme für den Sport. Es war dort auch alles so schön. Erst tolles Frühstück, dann Tischtennis, danach super Mittagessen, dann Tischtennis, anschließend  Kaffeezeit, dann wieder etwas Tischtennis und nach dem leckeren Abendessen noch mehr Tischtennis, bis irgendwann um 11 Uhr oder 12 Uhr jemand das Licht in der Halle ausmachte. Meine Brüder sind ebenfalls über dieses Trainingslager zu diesem tollen Sport gelangt und sind von der Platte auch nicht mehr weg zu bekommen.“

Welches waren ihre drei bisher schönsten Erfolge?

„Mein schönster Erfolg war der Titelgewinn des Top 48-Turniers Jugend 2013 in Lehrte. Bei solch einem großen nationalen Turnier mal ganz oben stehen zu dürfen, ach das war was. Da hatte ich mir selbst das erste Mal bewiesen, dass ich es schaffen kann. Dass das viele Training sich lohnt. Ich war sehr stolz auf mich und es freute mich auch immens, meinen Eltern den Pokal zeigen zu können. Eine Berlinerin/Brandenburgerin stand ganz oben. Toll. Ebenso besonders schön war aber natürlich auch mein allererster Landesmeistertitel 2006 in Groß Köris, Brandenburg. Hier lag ich im Finale im fünften entscheidenden Satz schon 6:10 hinten und meine Gegnerin, Julia Preuß, hatte eigentlich schon beide Hände am Pokal, und doch wollte ich unbedingt gewinnen und dann klappte noch das Undenkbare für mich. Ich gewann mit 12:10. Gerne denke ich an diesen Tag zurück. Der letzte große Erfolg für mich, den ich bestimmt nennen möchte, ist der 3. Platz in Chemnitz dieses Jahr bei den Nationalen Deutschen Meisterschaften im Mixed mit Frederik Spreckelsen. Wir kennen uns schon, seitdem wir beide kleine Kinder waren. Sind uns immer wieder bei Turnieren über den Weg gelaufen und in meinen zwei glücklichen Jahren in Schleswig-Holstein fuhren wir zu verschiedensten Turnieren als Kaderspieler. Einfach toll, dass ich mit Fredi diesen Erfolg teilen konnte. Vielen Dank an alle, die mich in so vielen Jahren weitergebracht haben, ohne diese große Unterstützung hätte ich nicht einen Erfolg nennen können. Danke.“

Hatten Sie auch schon mal einen traurigen Moment, ein wichtiges Turnier zum Beispiel, bei dem gar nichts zusammenlief, oder etwas anderes, weshalb sie im Tischtennis traurig oder enttäuscht waren?

„Diese Momente gab es leider nicht nur einmal. Sehr enttäuscht war ich über mein Erstrunden-Aus bei den Baden-Württemberg-Meisterschaften 2019, obwohl ich an Position 1 gesetzt war. Damals hatte ich Pfeiffersches Drüsenfieber und hätte eigentlich nicht spielen sollen. Aber so eine Meisterschaft gibt es nur einmal im Jahr. Ich hatte mich so lange darauf gefreut. Es wäre auch mein siebtes Bundesland mit einem Meistertitel gewesen, aber dann kam es ganz bitter für mich. Ich war wie blockiert, nach wenigen Bällen war nicht nur meine Puste weg, sondern ich war auch mental am Ende. Es ging nix. Bloß schnell nach Hause und die Decke über den Kopf. Gegen die Siegerin, Wenna Tu, habe ich dann wenige Wochen später im Punktspiel 3:2 gewonnen, es hätte also unter normalen Umständen wirklich etwas mit dem Titel werden können. Ein sehr trauriger, enttäuschender Moment für mich war auch in der letzten Punktspielsaison am letzten Spieltag das Spiel gegen Weinheim. Ich stand bis dahin 7:0 in der Liga. Es war das entscheidende Spiel um den Aufstieg in die 1. Bundesliga. Ich verlor an diesem Tag beide Einzel. Wir verloren dadurch 4:6. Die ganze Saison lief es bei mir super und ausgerechnet dann, als es am wichtigsten war, versagte ich.“

Sie haben sich nicht, wie viele andere, nach der Schule komplett auf Tischtennis konzentriert, sondern auch ein Studium erfolgreich absolviert. Was haben Sie studiert, welchen Abschluss haben Sie gemacht und weshalb war Ihnen das wichtig?

„Ich habe Betriebswirtschaftslehre studiert und somit jetzt einen Bachelor of Science mit einer Gesamtnote von 2,1. Nach meinem Abitur (1,8) war es mir sehr wichtig, eine Absicherung für später zu haben. Und mit BWL kann man sich in unheimlich viele Richtungen bewerben. Aber wer weiß, was noch alles kommt. Ganz tief im Innern aber würde ich gerne eine kleine Tischtennisschule, wie die in Erdmannsdorf betreiben und eventuell hilft mir dabei auch mein Studium.“  

Sind Sie vor wichtigen Spielen nervös oder eher gelassen?

„Ich mache mich immer ziemlich verrückt, muss ich gestehen, und denke schon Tage vorher über meine Spiele nach. Doch meist wandelt sich kurz vorher – spätestens wenn ich meinen Papa oder unsere lieben Zuschauer in Weil sehe – diese Nervosität in Freude um. Ich beruhige mich dann und denke an den Satz, den mir mein Trainer Peter Engel immer sagt, dass man keinen Grund haben muss, nervös zu sein, wenn man gut vorbereitet ist. Und da ich immer fleißig trainiere, sollte ich keinen Grund haben. Gelassen hingegen möchte ich nicht sein, mein Körper braucht die Aufregung und Spannung, um auf Betriebstemperatur zu schalten.“

Wo liegen Ihre größten Stärken im Tischtennis und woran müssen Sie noch arbeiten?

„Meine größte Stärke ist die Qualität meiner Bälle. Sowohl Vorhand als auch Rückhand kann ich absolut unterschiedlich spielen. Mal langsam mit Spin aber auch sehr schnell nach vorne. Ich denke, dass ich keinen fundamentalen Schwachpunkt habe, ist auch eine meiner Stärken. Woran ich arbeiten muss, ist eindeutig das Mentale. Auch verpenne ich oft den Einstieg ins Spiel. Ich fange dann erst richtig gut zu spielen an, wenn ich am Verlieren bin.“

Sie gehören der Trainingsgruppe von Peter Engel in Luxemburg an. Mit wem trainieren Sie dort, wie viele Stunden sind Sie jeden Tag im Einsatz? Haben Sie ab und zu auch mal einen freien Tag oder steht immer nur Tischtennis auf Ihrem Terminplan?

„Peter ist wirklich ein toller Trainer und ich bin sehr dankbar, seiner Trainingsgruppe angehören zu dürfen. Er hat unheimlich viel Erfahrung und ist ein geduldiger Trainer, der gut darüber Bescheid weiß, durch welche Dinge ich mein Spiel optimieren kann. Normalerweise trainieren wir je zwei bis zweieinhalb Stunden zweimal täglich. Zweimal in der Woche machen wir noch Krafttraining eine Stunde lang. Ganz genau kann ich aber nicht sagen, wie das Training ohne die ganzen Corona-Einschränkungen aussehen wird. Zurzeit trainieren wir nur unter der Woche montags bis freitags und am Wochenende ist frei. In meiner Freizeit mache ich häufig YouTube-Workouts von Pamela Reif und versuche, mich mental zu verbessern. In meiner Trainingsgruppe sind Karolina Mynarova, Mirko Habel, Ariel Barbosa und Sarah Meyer feste Mitglieder. Aber auch Tessy Gonderinger, Michael Schwarz oder Danille Konsbruck schauen mal vorbei. Zudem erhalte ich ab und an die Möglichkeit, mit Sarah De Nutte und Ni Xialian zu trainieren.“

Was wollen Sie im Tischtennissport erreichen, wie weit kann und soll es nach oben gehen?

„Das ist sehr schwer zu sagen. Zuerst einmal möchte ich mich fest in der 1. Bundesliga etablieren und dann möchte ich natürlich anfangen, internationale Turniere zu spielen. Wie weit und ob es überhaupt noch nach oben geht, tja, ich weiß es nicht. Aber ich hoffe sehr, dass ich noch ein kleines Stück des Weges vor mir habe. Und warum auch nicht, als kleines Mädchen war es für mich undenkbar, mal Kreismeisterin zu werden, später dann war es so gut wie ausgeschlossen, dass ich mal als Landesmeisterin ganz oben stehe, noch unmöglicher erschien es mir, dass ich bei einem TOP 48 Turnier die Siegertrophäe überreicht bekomme – also es geht immer mehr als man denkt.“

Coachingszene: Weils Trainer Alen Kovac mit Vivien Scholz.

Es ist ihr erstes Jahr in der 1. Bundesliga Damen, in den Jahren zuvor haben Sie sehr erfolgreich in der 2. Liga gespielt. Wie groß ist der Unterschied zwischen beiden Spielklassen?

„Die Spielerinnen der 2. Bundesliga im oberen Parkkreuz und die der 1. Bundesliga unten sind recht ähnlich stark. Der Unterschied liegt aber vor allem in den Kleinigkeiten. Die Qualität der Bälle beim Aufschlag, Rückschlag und dem ersten Ball sind ausschlaggebend. Hinzu kommt natürlich noch, dass in der 1. Liga im vorderen Paarkreuz jede Menge der europäischen Topstars zu finden sind. Solja, Shan, Mittelham, Gotsch, Lang, Winter… Sie alle zeichnen sich durch ihre individuelle Klasse aus.“

Ihr persönlicher Einstieg in die 1. Bundesliga Damen verlief mit drei Siegen und keiner Niederlage sehr erfolgreich. Hätten Sie es sich so „einfach“ vorgestellt oder mussten Sie an Ihre derzeitige Leistungsgrenze gehen, um diese drei Matches zu gewinnen?

„Na wenn ich ganz ehrlich bin, einen schöneren Einstieg hätte ich mir nicht vorstellen können. Das wird 1000-prozentig jedoch nicht so bleiben. Phasenweise musste ich im Spiel an meine Grenzen gehen, ohne Frage. Im letzten Spiel habe ich wieder, obwohl ich es tunlichst versucht habe zu vermeiden, den ersten Satz verpennt und abgegeben.“

Welche Ziele haben Sie mit Ihrer Mannschaft in dieser Saison ins Auge gefasst, was kann der ESV Weil als Aufsteiger in der wohl stärksten Liga Europas erreichen?

„Wir sind zuerst einmal ganz glücklich, überhaupt in der 1. Liga spielen zu dürfen und unsere Erfahrungen sammeln zu können. Wir haben mit dem Einzug ins Final Four schon so viel mehr erreicht, als wir für möglich gehalten haben. Wenn wir es jetzt noch unter die ersten Sechs in der Bundesliga schaffen und somit die Play-offs spielen können, wäre dies das i-Tüpfelchen für uns. Wenn unsere Mannschaft, das tolle Trainerteam, die herzlich guten Chefs Doris und Serge und die überragenden Fans auf Dauer Bestand haben, dann wird Weil ein fester Bestandteil der ersten Liga werden und bleiben.“

Die Bundesliga-Saison findet bisher meist ohne Zuschauer statt: Würden Sie lieber die Fans im Rücken spüren, besonders bei Heimspielen des ESV Weil?

„Auf jeden Fall! Wir haben die mit Abstand tollsten, liebsten und treusten Fans. Sie sind immer guter Dinge, dass wir gewinnen werden und glauben fest an uns. Sie geben uns viel Kraft, und ich denke, dass ich deswegen in der eigenen Halle noch ein ganzes Stück besser spiele. Sie feuern uns aber auch jetzt an, indem sie uns viel auf verschiedensten Plattformen schreiben und den Livestream alle mitverfolgen. Wenn wir in Weil trainieren, bringen sie sogar selbst gemachten Kuchen oder ein paar Kleinigkeiten für uns vorbei. Es ist unglaublich, was wir für tolle Fans haben. Und das nicht nur, weil wir jetzt 1. Liga spielen, es war auch schon früher immer ‚die Hütte voll‘.“

Was sagen Sie zum Champions-League-Sieg des ttc berlin eastside? Haben Sie das Turnier verfolgt? Hätten Sie Sich das letztes Jahr in der 2. Liga träumen lassen, dass Ihr Team nur einige Monate später den aktuellen Champions-League-Sieger zum Punktspiel empfangen würde?

„Ich habe fast alle Spiele zusammen mit meiner Weiler Mannschaft am Bildschirm verfolgt. Es waren wirklich beeindruckende und vor allem spannende Spiele. Ich freue mich ganz besonders für meine Freundin Nina [Mittelham], mit der ich eine lange Zeit im Internat zusammengewohnt habe, und ich freue mich ebenfalls sehr für Irina [Palina]. Sie hat viel Zeit in Berlin geopfert, um mit mir zu trainieren, und ist eine Person, zu der ich wirklich aufsehe. Wir haben letztes Jahr natürlich gehofft, den Aufstieg zu schaffen, weswegen klar war, dass wir dann auch so starke Mannschaften wie Berlin als Gegner haben würden, aber dass es nun wirklich so gekommen ist, großartig! Berlin ist, ob mit oder ohne Titel, immer eine Hausnummer.“

Gehen Sie immer ganz nüchtern und sachlich an Ihre Tischtennis-Aufgaben heran oder haben Sie auch Rituale und sind Sie vielleicht sogar ein bisschen abergläubisch?

„Ich bin schon sehr abergläubisch und habe kleine Rituale, wie wahrscheinlich viele Spielerinnen. Zum Beispiel esse ich einen Abend vor einem Spiel kein Fleisch oder meditiere vor dem Spiel. An sich konzentriere ich mich aber stark auf die Taktik und weiß vor allem, dass, wenn ich gut trainiert habe, auch nichts groß schief gehen wird. Wenn ich trotz gutem Training zuvor doch mein Spiel verliere, dann scheucht mich mein Vater gleich wieder zum Frisör. Er ist der Meinung, dass, wenn meine Haare zu lang sind, es eben auch nicht mehr im Spiel klappt. Das hat übrigens einer meiner liebsten Betreuer, Oliver Zummach, bestätigt. Soviel zum Thema Aberglaube [augenzwinkernd].“

Haben Sie ein Motto, das vielleicht auch für den Tischtennissport von Bedeutung ist?

„Es einfach tun, nicht lange drüber nachdenken.“

Interview & Fotos (3): Dr. Stephan Roscher

Teaserfoto: Johannes Gohlke 

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