Fünfzig Tage sind es in etwa noch bis zu den Olympischen Spielen. Fünfzig Tage verbleiben den chinesischen Nationaltrainern noch, Liu Shiwen auf ihre schwere Aufgabe in Tokio vorzubereiten. Denn die Einzel-Weltmeisterin steht im Fokus der chinesischen Medien: Ihre Auftritte in den zwei Trial-Turnieren waren bedenklich, am Wochenende schied sie ohne jegliche Chance gegen He Zhuojia mit 0:4 aus. Olympiaform ist das noch lange nicht. Und Liu steht unter Druck:
Liu Guoliangs spezielle Äußerung
Nach dem zweiten Olympia-Test reagierte Chef Liu Guoliang auf die Frage, was die Zielsetzung für Tokio sei mit der Aussage, dass man drei Titel behalten müsse und für die Titel Nummer Vier und Fünf kämpfe. Zur Erklärung: In Tokio werden fünf Goldmedaillen vergeben – je zwei Mannschafts- und Einzeltrophäen sowie eine im Mixed-Doppel. Liu meint, dass die Titel in den Teamwettbewerben sicher nach China gehen müssen – sowie der Triumph im gemischten Doppel. In den Individualkonkurrenzen müsse man alles geben – die Titel seien aber keine Pflicht.
Für Liu Shiwen bedeutet dies vor allem: Im Doppel mit Xu Xin ist sie zum Siegen verdammt. Hinzu kommt: Die zeitlich als erstes angesetzte Konkurrenz in Japan ist das gemischte Doppel. Eine Niederlage zu Anfang der Olympischen Spiele könnte den Glauben der anderen Nationen erheblich stärken, die chinesische Nationalmannschaft schlagen zu können. Denn schon häufig ließ sich beobachten, dass es auf internationalen Turnieren zu gewissen Dominoeffekten kam: Verlor ein Mitglied der chinesischen Auswahl eine Partie gegen einen Ausländer folgten in der Regel auch weitere Niederlagen der Teampartner.
Fan Zhendong muss sich noch beweisen
Die Aussage von Liu Guoliang hat aber auch einen anderen Hintergrund: Die Chinesen gehen in diesem Jahr mit einer olympia-unerfahrenen Mannschaft an den Start. 2016 bildeten noch Ma Long und Zhang Jike das Duo im Einzel, dieses Mal ersetzt Fan Zhendong den mittlerweile ausgeschiedenen Zhang. Fan Zhendong muss sich auch dem heimischen Publikum noch beweisen. Denn im Gedächtnis geblieben sind seine Auftritte bei den Weltmeisterschaften 2015, 2017 und 2019, in denen er – wenn es darauf kam – nicht überzeugen konnte. Seine Mentalität gilt als von Höhen und Tiefen geprägt: Am Wochenende lag er zunächst 1:3 gegen Xu Xin hinten, ehe er noch den Sieg eintüten konnte.
Damen-Team ist olympiaunerfahren – ein Risiko?
Bei den Damen ist die Situation noch krasser: Chen Meng und Sun Yingsha vertreten das Reich der Mitte im Einzel. Beide haben noch nicht an Olympischen Spielen teilgenommen, 2016 genossen Ding Ning und die ebenfalls ausgeschiedene Li Xiaoxia das Vertrauen. Gerade Sun Yingsha steht unter besonderem Druck: In der medialen Wahrnehmung hat sie den Einzelstartplatz von Liu Shiwen „gestohlen“ und steht daher in doppelter Rechtfertigungspflicht. Zur Erinnerung: Sun Yingsha ist 21 Jahre alt. Auch wenn sie häufig cool und abgeklärt wirkt, wird diese Situation etwas mit ihr machen. Beim zweiten Test unterlag sie Wang Manyu, ihre Performance wurde danach als lethargisch beschrieben, als hätte sie eingeschüchtert gespielt.
Aber auch Chen Meng kommt nicht gut weg: Zwar ist sie mit 27 Jahren schon etwas erfahrener aber im Finale am Wochenende unterlag sie Wang Manyu mit 1:4. Die chinesischen Medien bemängelten ebenfalls den fehlenden Siegeswillen Chens. Ihre Gegnerin Wang Manyu dagegen wirkte vollkommen determiniert den Titel einzufahren – zusammengefasst „hungriger“. Die Sorge: Mima Ito wird in Tokio vor heimischer Kulisse nochmals „hungriger“ auf den Titel sein, davon wird sich Chen Meng zukünftig nicht mehr beeindrucken lassen dürfen.
Die weitere Botschaft von Liu Guoliang
Zurück zur Aussage Liu Guoliangs: Der erfahrene Trainer weiß um die besondere mentale Herausforderung für die vielen Olympia-Debütanten und Debütantinnen. Mit seiner Äußerung, die Titel in den Einzelwettbewerben seien keine Pflicht, versucht er Druck von den jungen Athleten aus China zu nehmen. Doch eigentlich ist jedem klar: Alles andere als der Gewinn aller Goldmedaillen wäre eine Enttäuschung. Lius Statement hat noch eine weitere Botschaft: Die Chinesen werden keinen einzigen Punkt auf die leichte Schulter nehmen, sondern mit einer kämpferischen Mentalität an den Start gehen. Um diesen Hunger aus ihren Athleten heraus zu kitzeln, verbleiben den Trainern nicht mehr viel Zeit. Fünfzig Tage.
Text: Ludger Santel
Beitragsbild: courtesy by the ITTF