Cluj-Napoca. Die achte Goldmedaille für ein deutsches Damen-Team bei Europameisterschaften ist wohl die überraschendste. Mit dem 3:1-Sieg über den hoch favorisierten EM-Gastgeber Rumänien im Finale haben Nina Mittelham, Sabine Winter, Chantal Mantz und Annett Kaufmann, perfekt ein- und aufgestellt vom Bundestrainer-Duo Tamara Boros und Wan Guohui, das Wunder von Cluj-Napoca geschafft.
Es war wie in den Partien zuvor in der BT Arena eine geschlossene Mannschaftsleistung, die das Trio am Tisch, Mittelham, Winter und Mantz, auch im Endspiel zeigte – mit Teamgeist, Spielfreude, Selbstvertrauen, Kampfgeist und Konzentration. Zwei Punkte erzielte eine vor allem mental überragende Nina Mittelham, den dritten steuerte Sabine Winter in spielerischer Bestform bei, und auch Chantal Mantz war nicht weit von einem Einzelsieg entfernt.
Bundestrainerin Tamara Boros war nach dem Titelgewinn überglücklich: „Nachdem Peti Solja wegen Krankheit kurzfristig absagen musste, haben wir gesagt, dann versuchen wir die Gruppe zu gewinnen und schauen danach einmal, was geht. Wir sind das ganze dann einfach Schritt für Schritt angegangen, ohne vom Titel zu träumen, zumindest ich nicht. Im Endspiel heute war es ungemein wichtig, dass Nina ihr erstes Einzel gewonnen und damit Druck für die Rumäninnen aufgebaut hat. Samara konnte man dann im zweiten Einzel ihre Nervosität anmerken, aber Sabine hat auch wie im Rausch gespielt. Ich habe das beste Team und bin ungemein stolz auf meine Mannschaft, dass wir das mit unserer Klasse und einem ganz außergewöhnlichen Teamspirit gewonnen. Für mich ist der Titel auch etwas Besonders: Als Spielerin war es für mich eine der größten Enttäuschungen, nie den Team-Titel gewonnen zu haben. Jetzt komme ich als Coach und gewinne ihn auf Anhieb. Das ist wie ein Traum.“
Mittelham zum Ersten: Vom 6:9 zum Matchgewinn
Nina Mittelham hätte in ihrer Ruhe und Konzentration an diesem Tag wohl nichts erschüttern können. Gleich im ersten Einzel dieses Finals traf die Europe-Top-16-Gewinnerin von Mitte September im Einser-Duell auf die Nummer 25 der Weltrangliste, Bernadette Szocs. Die Rumänin gewann den ersten Satz, legte immer wieder Punkteserien hin und zog aus Rückständen an Mittelham vorbei, sicherte sich mit ihren Aufschlägen Vorteile, stieß die für ihre Gegnerinnen auf der Tour inzwischen gewohnt spitzen Jubelschreie aus und wurde von der Tribüne mit „Bernie, Bernie“-Rufen der heimischen Zuschauer angefeuert.
Und Mittelham? Die Deutsche Einzel-Meisterin zeigte sich unbeeindruckt, attackierte früh, nutzte jede Gelegenheit zur Eröffnung und spielte mit dem Gefühl und der Übersicht, die sie als großes Tischtennis-Talent auszeichnen. Auch im fünften Satz gab sie sich nicht geschlagen, weder beim Stand von 2:5 noch 6:9. Punkt für Punkt holte sie auf. Die Spannung wurde so groß, dass Bundestrainerin Tamara Boros nach dem Aufspringen im Anschluss an jeden Punkt sogar ein paar Schritte an der Box hin und her lief, die Augen immer auf ihre Spielerin gerichtet und Mut zusprechend. Und Nina Mittelham gelang das Comeback. Bei 10:9 hatte sie ihren ersten Matchball und verwandelte den zweiten zum 11:9.
Winter: „Wir hatten Bock zu spielen und dann lief es einfach“
Sabine Winter war gegen die 32-jährige Einzel-Europameisterin von 2015, Elizabeta Samara, immer einen Tick schneller, spielte härter und ließ die gewiefte Linkshänderin selten zur Entfaltung kommen. Selbst auf Winters vermeintlichem Schwachpunkt im Vergleich zu ihrer krachenden Vorhand und ihren pfeilschnellen Beinen, der Rückhand-Seite, war für Samara nicht viel zu holen. Blitzschnell und wohlplatziert, dass der Olympia-Dritte von Tokio Dimitrij Ovtcharov seine wahre Freude an dieser gelungenen Nachahmung haben würde, waren die Topspins der zweifachen Doppel-Europameisterin. Einige Bälle nahm Winter so früh, dass es fast nach Volley-Annahmen wirkte, ob bei direkten Punkten mit der Rückhand oder in längeren Rallyes. Nach dem 3:0 wurden die rund 1.000 Zuschauer in der BT Arena merklich ruhiger. Sabine lachte anschließend über den Vergleich: „Die Rückhand heute war gut, aber so gut wie die von Dima ist die Rückhand noch nicht, aber ich arbeite daran.“ Die 29-Jährige, die in den von Cluj wegen Magenschwerden nicht allzuviel feste Nahrung zu sich nahm, freute sich über die Goldmedaille: „Das ist ein ganz unerwarteter Titel, ähnlich wie der 2013 der im Doppel. Von allen EM-Erfolgen mit der Mannschaft für mich ist der diesmal sicherlich der schönste: Zum einen, weil ich gar nicht damit gerechnet habe, zum anderen, weil ich zum ersten Mal bei einer EM auch bei den wichtigen Spielen zum Einsatz gekommen bin. Aber auch alle anderen Titel sind ungemein wertvoll für mich.“ Winter sah die Basis für den Erfolg nicht zuletzt im Teamspirit: „Wir hatten hier alle Vier sehr viel Spaß als Mannschaft, hatten Bock zu spielen und dann lief es einfach.“
Die 25-jährige Chantal Mantz stand mit der acht Jahre älteren Daniela Dodean Monteiro der ehemaligen Nummer 19 der Weltrangliste mit der Erfahrung von vier Olympia- und 13 WM-Teilnahmen gegenüber. Und trotz einer Niederlage machte Mantz ihre Sache sehr gut. Die diesjährige Einzel-Finalistin der Deutschen Meisterschaften ging auch dank eines enormen Laufpensums und aggressiver Spielweise nach verlorenem ersten Durchgang mit 2:1 in Satzführung. Dann schaffte es Dodean Monteiro, sich in den Durchgängen vier und fünf schon früh mit deutlichen Führungen abzusetzen.
Im Entscheidungssatz holte die Langstädter Bundesligaakteurin von 0:4 noch auf 4:6 auf, wollte dann aber zu viel, während ihre Kontrahentin jeden kleine Schwäche nutzte. Von 4:9 verkürzte Chantal Mantz, für die es das EM-Debüt ist, auf 7:9. Mit der anschließenden Rallye des Tages und einer selbst in der Ballonabwehr noch wie eine Löwin kämpfenden Mantz erspielte sich Dodean Monteiro ihren ersten Matchball. Als sie ihn verwandelt hatte, sank sie auf die Knie und ihre Mannschaft schöpfte neue Hoffnung. Die nur ein Spiel währen sollte. Chantal Mantz war trotz der Niederlage nicht allzu betrübt: „Wichtig war nur der Sieg für die Mannschaft. Es ist Wahnsinn, Teil der Mannschaft zu sein, die jetzt Europameister geworden ist. Es ist unglaublich, dass wir das mit unserer Truppe geschafft haben. Ich freue mich, dass ich im Turnier ein paar Punkte beisteuern konnte. Im Finale habe ich mein bestes Spiel gemacht, auch wenn ich es heute knapp verloren habe. Heute wird erst einmal richtig gefeiert.“
Mental starke Mittelham macht den Titel klar
Die Partie zwischen Elizabeta Samara und Nina Mittelham verlief völlig offen. Samara machte die spektakuläreren Punkte und beschäftigte die Deutsche oftmals mit extremen Platzierungen in die weite Vor- und Rückhand. Mittelham sicherte sich eher die kleinen Punkte und konnte sich auf die Durchschlagskraft ihrer Vorhand verlassen. Im fünften Durchgang konnte sich keine der beiden Akteurinnen absetzen, dann stand es von 5:5 plötzlich 9:6 für die Wahl-Berlinerin nach Punkten durch parallele Vorhand-Topspins und einem Netzball. Beim Stand von 10:7 dann der erste Matchball, der Championship-Ball. Vorhand-Aufschlag Samara, halblanger Vorhand-Rückschlag Mittelham und eine Elizabeta Samara, die sich nicht rechtzeitig zwischen Rückhand-Schupf und -Spin entscheiden konnte. Ihr missglückter Ball landete hinter dem Tisch. Nina Mittelham riss jubelnd die Arme hoch, um sie dann ungläubig am Hinterkopf zusammenzufalten – da rannte schon ihr Team in Box, um mit ihr den Titel zu feiern. Dieser Freudentanz nach dem Finale, Arm in Arm die Spielerinnen und die Trainerin einen Kreis bildend, war der schönste und ausgelassenste der drei Tänze, die das deutsche Frauen-Wunder bei dieser EM aufführten. Und so passend zu Tina Turners „Simply the best“, das dazu aus den Hallenlautsprechern erscholl.
Die 24-Jährige strahlte nach dem gewonnenen Finale: „Es einfach unglaublich, dass wir jetzt mit dieser Mannschaft Europameister sind. Wir sind hier mit dem Team angetreten, um das Viertelfinale zu erreichen und dann von Spiel zu Spiel zu schauen. Dass wir am Ende in Rumänien gegen den großen Favoriten und Titelverteidiger Rumänien Gold gewinnen, ist ein Traum. Es war im Finale zwar die Anfeuerung der Fans sehr laut in der Halle, aber das hat uns nur motiviert. Nach der Nichtnominierung für Position drei bei den Olympischen Spielen war ich eine Zeit in einem Loch. Ich bin jetzt sehr glücklich, dass ich diese Phase überwunden habe und noch besser geworden bin. Iim Moment sehr konstant auf einem sehr hohen Niveau spiele und bin dabei auch mental sehr stabil.“
Die vierte Spielerin im deutschen Goldmedaillenteam, die erst 15 Jahre alt Schülerinnen-Europameisterin Annett Kaufmann (Böblingen), feuerte ihr Team von der Bank aus lautstark an. Im ersten EM-Match gegen die Slowakei hatte sie sogar einen Punkt zum Europameistertitel beigesteuert: „Es war ein unglaubliches Erlebnis für mich, hier zur Mannschaft zu gehören und sogar eingesetzt worden zu sein. Ich hoffe, dass ich in ein paar Jahren auch ein EM-Finale bestreiten darf.“
Für Deutschland ist es EM-Gold Nummer 49 in der 63-jährigen Geschichte der kontinentalen Titelkämpfe und die Medaille Nummer 132 insgesamt.
Damen-Finale, Sonntag, 3. Oktober
Deutschland – Rumänien 3:1
Nina Mittelham – Bernadette Szocs 3:2 (-8,7,-9,9,10)
Sabine Winter – Elizabeta Samara 3:0 (6,9,10)
Chantal Mantz – Daniela Dodean Monteiro 2:3 (-7,7,8,-5,-7)
Mittelham – Samara 3:2 (-10,8,-9,9,7)
Text: DTTB
Bild: ETTU