Di, 5. November 2024
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EM2020: Sehnsucht nach einer Überraschung

Vorschau: Einzel-EM der Herren

Von David Rieß

Bei den Einzel-Europameisterschaften der Herren waren Überraschungen zumeist rar. In den letzten 40 (!) Jahren gelang dies einzig Emmanuel Lebesson, während ansonsten Topgesetzte siegten: Allen voran selbstverständlich Timo Boll, der sich sechs der letzten zehn Titel sicherte. Können wir in diesem Jahr mit mehr Überraschungen rechnen? Wer hat Chancen auf den Einzel-Titel der Herren? Es gibt erste Indizien und eine überraschende Absage eines Mitfavoriten!

Wo sich laut UNESCO gleich zwei Weltkulturstätten befinden, werden ab morgen die besten europäischen Tischtennis-Spieler um Medaillen kämpfen. Zahlreiche Nationalverbände machen sich beim Turnier in der polnischen Hauptstadt Warschau berechtige Hoffnungen auf Edelmetall.

Deutschland: Drei Mitfavoriten in einem Team

Nominell am vielversprechendsten dürfte die Situation für die DTTB-Delegation um Dimitrij Ovtcharov und Timo Boll sein, die an Nummer 2 bzw. 3 gesetzt selbstredend zum Favoritenkreis zählen. Beide zeichnet eine enorme Erfahrung aus, außerdem konnten sie die Vorbereitung mit den besten Trainingspartnern angehen. Aus diesem Kreis ist Patrick Franziska (Nr. 4 in Europa) außerdem gewiss ein Medaillenkandidat, wobei seine Leistungen zuletzt einen Finaleinzug eher unwahrscheinlich machen. Mit Ovtcharov und Boll ist allerdings voll zu rechnen: Letzterer hatte in diesem Jahr keine Mühe, die Vorbereitung knallhart durchzuziehen. Zusätzlich könnte der Odenwälder Boll durch den Triple-Sieg mit Borussia Düsseldorf auf einer kleinen Wolke schweben.

Schweden: Falck von Källberg entthront?

Zur Wahrheit gehört auch, dass der Düsseldorfer Erfolg nicht nur auf Timo Bolls Leistungen fußte. Anton Källberg mauserte sich in dieser Corona-Saison heimlich, still und leise zum besten Spieler der TTBL und wusste vollends zu überzeugen: Borussia Düsseldorf spielte demnach in den wichtigen Spielen mit zwei sogenannten „Einsern“. Wenig spricht dagegen, dass Källberg dieses Hoch nicht mit in das Turnier nehmen kann, in dem er nur an Position 21 gesetzt ist. Dementsprechend dürfte er im schwedischen Team hoffnungsfroher ins Turnier gehen als Kristian Karlsson, dem nichtsdestotrotz ein Platz im Viertelfinale zuzutrauen ist. Ebenfalls hinter Källberg muss sich womöglich Mattias Falck anstellen, der die Setzliste zwar offiziell anführt, in der TTBL aber mit einer Bilanz von 25:9 etwas zu unkonstant für den großen Wurf wirkte. Gerade Falck darf sich neben Källberg sicherlich Medaillenhoffnungen machen, wäre aber eher auf eine gute Losfee angewiesen!

Frankreich: Europameister Lebesson mit Chancen?

Auf dem Schirm sollten TT-Beobachter auch das französische Team haben: Zum einen haben sie mit Emmanuel Lebesson den vorletzten Einzel-Europameister in ihren Reihen und zum anderen mit Simon Gauzy einen der Topgesetzten, der zuletzt bei Ochsenhausen zu überzeugen wusste. In punkto Lebesson möchte ich die Luft vorsichtig direkt wieder rauslassen: Zu berechenbar wirkt sein Spiel mittlerweile und zu „normal“ verlief seine Saison als Nummer 1 bei Neu-Ulm, als dass man sich den 33-jährigen erneut als Sieger vorstellen kann. Anders dürfte die Lage beim jüngeren und flexibler spielenden Gauzy sein: Dem Mann, der zwischen 2008 und 2011 sieben (!) Goldmedaillen bei Jugend-EMs abstauben konnte, fehlt noch der große Wurf bei einer EM, nachdem er 2016 unerwartet gegen Lebesson unterlag. Obwohl einiges für Gauzy spricht, wandelt er etwas im Schatten der Deutschen sowie des formstarken Källberg – vielleicht zu Unrecht?

Portugal: Gelingt die Trendwende?

Werfen wir einen Blick auf die Portugiesen, die bei den letzten beiden Individual-Europameisterschaften hinter den eigenen Erwartungen zurückblieben – und dies den aktuellen Entwicklungen nach weiterhin tun werden: So ist Tiago Apolonias Entwicklung – gerade international – rückläufig, während seine TTBL-Leistungen in einem erwartbaren, aber keinesfalls überraschenden Bereich anzusiedeln sind. Auf etwas höherem Niveau trifft dies auch auf Marcos Freitas zu, der als siebtbester Europäer ins Turnier gehen wird. Wirft man einen Blick auf sein Agieren in der russischen Liga und der Champions League spricht vieles dafür, dass der Portugiese seine Setzung höchstens leicht übertreffen werden kann.

Best of the Rest I Pitchfords Absage

Wie sieht es bei den etwas schwächeren Delegationen aus? Dort wäre zunächst sicher Europas Nummer 4, Liam Pitchford, zu nennen. Dieser taucht jedoch entgegen anderslautender Meldungen nicht auf der offiziellen Meldeliste der ETTU auf! Laut ersten Informationen von TT-NEWS musste der Engländer aus Sicherheitsgründen in Quarantäne und das Turnier daher absagen.

Überraschen könnte aufgrund seiner jüngsten Entwicklung der Saarbrücker Darko Jorgic, der sich in diesem Jahr als Bank erwies und seine Setzung auf Platz 8 damit sicher übertreffen will und kann, sollte er diese Form bestätigen können.

Fazit: Wer hat die besten Karten?

Neben Dimitrij Ovtcharov und Timo Boll wird demnach Anton Källberg als „Geheimfavorit“ in das Turnier gehen. Gleichwohl gilt, dass dieses Geheimnis nur denen verborgen geblieben sein dürfte, die Tischtennis nicht verfolgen. Zum erweiterten Favoritenkreis zählt neben den erwartbaren Kandidaten Marcos Freitas, Simon Gauzy und Patrick Franziska aktuell besonders Darko Jorgic, der Slowenien eine Medaille bescheren könnte.

Ovidiu Ionescu – bei der letzten EM noch Zweiter – dürfte nicht um den Titel mitspielen. Mattias Falck wiederum, der als Topgesetzter eigentlich ein größeres Thema sein sollte, scheint außerdem wenig Argumente für eine Topleistung auf seiner Seite zu haben. Selbst Bronze wäre im Vergleich zur starken Konkurrenz wohl eine kleine Überraschung.

Trotz dieser Einschränkungen stellt sich bei den vielen Optionen eine „Glaubensfrage“: Räumt man den Routiniers große Chancen ein und misst dem Faktor Erfahrung viel Bedeutung zu oder setzt man auf das Momentum von Källberg bzw. gar Jorgic?

Text: David Rieß

Foto: Johannes Gohlke

Anmerkung der Redaktion: Aus sportjournalistischer Sicht galt auch der EM-Sieg von Peter Karlsson 2000 als kleine Überraschung, da die meisten Experten auf andere Spieler setzten. Gleichwohl zählte Karlsson anders als Hilton oder Lebesson zu den Topgesetzten. / drie

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